Oder: Ab durch’s Verdauungssystem.

Ach war das herrlich, in der Luft zu hängen, am sommergrünen Baum, die warme Sonne auf der Schale zu spüren und einfach nichts zu tun. Dann kamen sie und schüttelten wild an den Bäumen, bis ich zu Boden fiel. Bald kehrte wieder Ruhe ein und ich konnte in der Sonne weiter trocknen. Aber kurz darauf kehrten sie zurück und sammelten mich ein. Vorbei war die Ruhe, vorbei die Wärme. Meine Fruchthülle wurde entfernt und meine Schale geknackt. Ganz nackt lag ich mit den anderen Kernen zusammen und wartete.

Die Reise beginnt
Inzwischen liege ich hier, in Gesellschaft von Walnüssen, Haselnüssen und Rosinen, im Dunklen. Und um das noch klarzustellen: Ich bin keine Nuss, sondern eine Steinfrucht! Wir sind die Samenkerne des Mandelbaums, keine dahergelaufenen Nüsse. Über diese Einordnung muss ich mich jedes Mal wieder aufregen. Langweilige Zeitgenossen sind diese Nüsse und Trockenfrüchte auch noch. Zum Glück gibt es hier noch einige andere Mandeln, mit denen ich witzeln kann. Aber diese ständige Dunkelheit nervt schon.
Kurzer Zwischenstopp: Der Mund
Oho, wir bewegen uns, fallen aufeinander und übereinander. Es rüttelt und schüttelt. Licht! Endlich, Licht. Ich rutsche darauf zu, da kommt die Kante, schwups, ich fliege! Das Licht blendet mich. Wie warm meine Haut wird. Klatsch – schon wieder dunkel. Aber jetzt ist es feucht und warm. Alles bewegt sich. Was sind das nur für komische Geräusche? Hört sich an wie ein Mahlwerk. Autsch! Was fällt denen ein, jetzt bin ich nur noch eine halbe Mandel! Und dieser Schleim, wo kommt der denn auf einmal her? Angenehm ist er nicht. Überall an mir kribbelt es, mein Zucker löst sich auf.
Etappe 1: Trampolinspringen im Magen
Oje, weiter geht’s. Dieses Mal nach unten, einen langen Schlauch hinab. Diese blöde unebene Oberfläche, da stößt man sich ja ständig an. Kann die nicht wenigstens glatt sein? Was für eine unangenehme Reiseeeeeee… und da war die Klippe. Ich stürze in einen leeren Raum. Was ist das denn? Irgendwas zupft an mir! Weg da, weg da. Das schmerzt. Wieder fehlen ein paar Stücke von mir. Platsch, gelandet, im Nassen. Hier riecht es ja furchtbar! So sauer. Da kommt einem ja die Galle hoch. Fühlt sich an wie auf hoher See, alles bewegt sich, durchmischt sich. Autsch. Meine Haut brennt! Das muss von der übel riechenden Flüssigkeit sein. Kann die mal einer abgießen? Irgendwie löse ich mich immer mehr auf. Ach je, wieder geht’s nach oooobeeeeen. Da sind wieder diese lästigen Biester. Ihr habt mich doch schon klein geschnitten, reicht’s endlich mal? Und zurück, abwärts in die Säure…
Endlich hat das Hochwerfen ein Ende, das hat ja ewig gedauert. Viele Proteine und Kohlenhydrate fehlen mir jetzt. Fettstücke habe ich auch verloren. Jetzt bin ich ein kleines zwei Millimeter langes Stückchen Mandel, inmitten eines sauren Breis aus anderen Leidensgenossen. Meine anderen Teile sind überall verstreut. Und jetzt stehen wir hier, und warten. Auf was eigentlich? Ist die Reise endlich vorbei? Ups, zu früh gefreut. Ein Verschluss öffnet sich und weiter geht’s.
Etappe 2: Der 12-Fingerdarm und ein langer Tunnel namens Dünndarm
So hier riecht’s schon mal anders. Nicht mehr so sauer. Das kommt sicher von der neuen Flüssigkeit, die uns vermischt. Fühlt sich angenehm an. Das Brennen hört auf. Endlich. Den anderen scheint es wohl nicht so zu gefallen. Die meckern und schreien. Beschweren sich, dass sie weiter kleingeschnitten werden. Da wollen sich die einzelnen Aminosäuren nicht loslassen. Tja, Pech gehabt. Auch das Fett freut sich nicht. Die Flüssigkeit trennt die Fetttröpfchen wie Spülmittel voneinander und spaltet sie in einfache Fettsäuren. Jetzt fangen auch noch die Zuckerstücke an zu motzen. Sie wollen auch lieber in ihren langen Ketten bleiben, aber unerbittlich zerteilt der Saft sie in einfache Zucker.
Was kitzelt denn da? Fühlt sich an wie kleine Bürsten. Eigentlich angenehm, da wird man ein bisschen massiert. He! Was soll denn das? Das ist mein Vitamin! Fiese kleine Bürsten-Dinger, klauen einem sein Eigentum. Von denen halte ich mich jetzt fern. Ab in das Getümmel, weg von dieser komischen Wand. Immer mehr von uns verschwinden durch sie hindurch. Die Aminosäuren werden weniger und die Zucker verschwinden auch.
Wir rutschen stetig dahin. Na toll, jetzt verabschieden sich auch noch die kleinen Fetttröpfchen von mir! Wo soll das nur hinführen? Ich muss mir wohl neue Weggefährten suchen. Hm, ich versuch es mal bei dem Wassertropfen neben mir. “Hi du, wie geht’s denn so?” Hoppla! So intim wollte ich die Beziehung eigentlich nicht werden lassen: Entschuldigung, dass ich dich aufgesaugt habe. Ok, immerhin bin ich dank dir größer geworden! Was für ein toller Effekt. Ich sammle gleich noch mehr Wasser ein, dann werde ich schön groß. Jetzt sehe ich endlich mal, was weiter vorne so abgeht. Oh. Vielleicht hätte ich besser nicht geschaut, wir steuern schon wieder auf einen Stau zu. Na toll, wieder warten. Irgendwie wird es lauter, Gemurmel dringt zu mir her. Ileozä-Was? Verstehe ich das richtig? Ich frag mal:
“Entschuldigung lieber Ballaststoff, was geht hier vor?”
“Oh hallo, wasserlösliches Ballaststoff. Hier staut es sich immer. Die Ileozäkalklappe öffnet sich nur zu bestimmten Zeiten. Sie verschließt sich immer feste, denn sie verhindert unseren Rückfluss aus dem Dickdarm zurück in den Dünndarm. Das wäre für den armen Menschen fatal.”
“Ah ok. Das sagt mir jetzt nichts. Aber danke.”
Etappe 3: Räuberische Bakterien im Dickdarm
Na toll, jetzt hatte ich mal einen Gesprächspartner, da musste sich die blöde Klappe öffnen und alles durcheinander bringen. Dann geht die Reise für mich halt alleine weiter. Ab durch die Klappe. Oh nett, hier steht mal ein Hinweisschild “Zu Blinddarm und Wurmfortsatz bitte links abbiegen”. Was soll das denn sein?
Oje, jetzt geht’s auch noch nach oben. So kommen wir ja nie zum Ende. Offenbar geht es da vorne scharf nach rechts. Ja, da muss ich mich aber hart in die Kurve legen, um an den anderen vorbeizuziehen. Die sind so langsam. Und nach unten geht’s auch schon wieder. Ich ruhe mich erst mal aus und lass mich treiben. Der erste ruhige Moment, seitdem die Irrfahrt begonnen hat. Ich schließe mal die Augen und versuche, das alles auszublenden. “Oooommmm Namah Shivaya, Oooomm Namah Shivaya, Ooomm Namah Shivaya…”
He! Autsch! Was soll denn das? Ich will doch nur entspannen und nicht gebissen werden! Behalt deine Zähne bei dir. Gleich setzt es was! Mist, ich bin schon wieder an den Rand des Breis gerutscht. Diese schleimige Wand ist besetzt von räuberischen Wesen, die mich fressen wollen. Eine Vorwarnung wäre schön gewesen! Dann hätte ich nicht angefangen zu meditieren. So, ab in den Brei, verstecken.
Hm, der sah vor wenigen Minuten aber auch noch anders aus. Es fehlen die ganzen wasserlöslichen Ballaststoffe – jetzt bin ich echt alleine. Hier schwirren nur noch wasserunlösliche Sachen herum. Komisch riecht es auch. Puh, langsam habe ich genug. Ich möchte einfach nur wieder an meinen Strauch zurück.
Etappe 4: Ausgang in Sicht
Oh nein, schon wieder ein Stau in Sicht. He, halt. Nicht von hinten drücken. Ihr quetscht mich ja ein! Wollen die uns hier zu einer Wurst zusammenpressen? Mist, jetzt kann ich mich gar nicht mehr bewegen. Macht mal hinne da vorne. Ich will hier raus!
Wo bin ich denn? Oje, ich muss eingeschlafen sein. Wie viel Zeit ist vergangen? Es stinkt immer noch fürchterlich. Was sind das für Geräusche? So schmatzend. Die Seitenwände pressen gegen unseren eingedickten Brei. Oh fein, wir bewegen uns! Endlich! Langsam geht es voran. Aber da, sehe ich richtig? Da vorne wird es heller! Oh, wie ekelig, die Wurst ist rot-braun. Meine Haut ist ganz verschmutzt. Igitt. Wenigstens kommt das Licht näher. Vielleicht wartet am Ende mein Mandelbaum auf mich! Nur noch ein kleines Stück, es wird schneller. Noch kurz durch die Öffnung gequetscht und schwups, draußen bin ich. Nach unten geht’s, ab ins Ungewisse.